Aufgrund der niedrigen Einarbeitungszeit und in Anbetracht des wachsenden Fachkräftemangels bietet eine Augmented Reality-Brille neue Perspektiven.

Aufgrund der niedrigen Einarbeitungszeit und in Anbetracht des wachsenden Fachkräftemangels bietet eine Augmented Reality-Brille neue Perspektiven. (Bild: Kristian & AdobeStock)

Im Labor Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen (LFW) der Ostbayerischen Technischen Hochschule in Regensburg wird seit etwas mehr als zwei Jahren der Einsatz von Augmented Reality Brillen in der mechanischen Fertigung untersucht. Im Rahmen des vom BMWi geförderten ZIM-Projekts ‚CNC-Visual‘ ist eine App für die Microsoft HoloLens 2 entwickelt worden, die die positionsgenaue Montage von Spannmitteln auf den Tischen von Bearbeitungszentren sicher und effizient machen soll.

„Montageunterstützung durch AR-Technologie ist zunächst einmal nichts Neues“, sagt Prof. Dr.-Ing. Andreas Ellermeier, Leiter des LFW. „Wir haben bei der Entwicklung unserer App den Fokus klar auf die Verbesserung der Anzeigegenauigkeit der Position der 3D-Hologramme gelegt und eine Darstellung gewählt, bei der die Hologramme nicht die Hände verdecken und zusätzlich eine gute visuelle Überprüfung der Position gewährleisten. Außerdem geht es bei unserer gesamten Prozesskette darum, die Daten für die AR-Brille möglichst ohne Zusatzaufwand zu generieren. Mit der Version 2 der Microsoft HoloLens können wir nun diesen Prozess ausreichend genau abbilden und alle Vorteile der AR-Technologie nutzen. Aktuell haben wir den Montageprozess von Spannmitteln im Visier. Wenn die Voraussetzungen stimmen, sind aber auch andere Montageprozesse denkbar.“

Eine Anwenderstudie zeigt, dass durch den Einsatz von Augmented Reality, kurz AR, beim Rüsten von Bearbeitungszentren eine höhere Prozesssicherheit erreicht wird.
Eine Anwenderstudie zeigt, dass durch den Einsatz von Augmented Reality, kurz AR, beim Rüsten von Bearbeitungszentren eine höhere Prozesssicherheit erreicht wird. (Bild: OTH Regensburg & Krones AG)

Im Gegensatz zu einer Virtual Reality (VR) Brille schaut der Mitarbeiter durch die AR-Brille hindurch. Er kann so seine Umgebung nahezu unbeeinträchtigt wahrnehmen und hat beide Hände frei. Zur Montage der Spannmittel wird jeder Montageschritt ins Sichtfeld des Anwenders eingeblendet. Sobald die Begrenzungskontur das zu positionierende Spannelement gleichmäßig einrahmt, ist die exakte Position gefunden. Zusätzlich können ergänzende Montagehinweise oder Stücklisten mit Lagerorten eingeblendet werden. Die Navigation durch die Montageschritte erfolgt über Gesten oder Sprache.

Frei positionierbare Spannelemente im Fokus

Zur Zielgruppe für diese Anwendung gehören fertigende Unternehmen, die aufgrund von kleinen Losgrößen häufig umrüsten müssen und die keine speziellen Vorrichtungen für die positionsgenaue Fixierung der Rohteile verwenden. Ganz häufig kommen dann modulare Spannsysteme auf Basis von Lochrastern oder T-Nuten zum Einsatz. Problematisch sind alle nicht eindeutig positionierbaren Spannelemente. Im Fall der Aufspanntische mit T-Nuten betrifft das nahezu alle Spannelemente. Beispiele für Spannelemente, die bei Lochrasterplatten nicht eindeutig zu positionieren sind, sind zylindrische Erhöhungen, um Teile mit Abstand zur Tisch-fläche aufspannen zu können, und Spannpratzen. Beides wird häufig nach Augenmaß mithilfe einer Aufspannzeichnung positioniert. Größere Abweichungen vom geplanten Idealzustand sind hierbei zu erwarten.

Voraussetzung für den Einsatz der HoloLens 2 App ist eine CAD-Spannbaugruppe, die idealerweise bei der Bahnplanung im 3D-CAM-System erstellt wird. Hier erfolgt auch die Kollisionsüberprüfung des NC-Programms. Die Kollisionsfreiheit kann allerdings nur gewährleistet werden, wenn die reale Aufspannung mit der geplanten möglichst gut übereinstimmt. Dies soll durch den Einsatz der AR-Brille sichergestellt werden.

Wie genau das Positionieren in der Praxis funktioniert und ob das Rüsten länger dauert oder am Ende sogar schneller geht und wie die Akzeptanz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist, sollte der Praxistest zeigen. Zusammen mit der Abteilung Digital Production und Systems der Krones AG mit Hauptsitz in Neutraubling wurde dies im Rahmen einer Studie untersucht. „Wir sehen großes Potenzial für mehrere Bereiche unserer Fertigung“, sagt Josef Weinzierl, Leiter der Corporate Production, Digital Production and Systems bei der Krones AG. „Neben der erreichbaren Genauigkeit mit der AR-Brille ist es für uns wichtig, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Fertigung diese moderne Technologie nicht nur akzeptieren, sondern einsetzen wollen.

Auf dem Bild ist das Beispiel eines Messergebnisses zu sehen.
Auf dem Bild ist das Beispiel eines Messergebnisses zu sehen. (Bild: OTH Regensburg & Krones AG)

Für die Studie standen 16 Probanden zur Verfügung, zehn erfahrene Mitarbeiter, die täglich Rüstprozesse durchführen, und sechs angehende Zerspanungsmechaniker im 2. und 3. Ausbildungsjahr, die bisher wenig bis keine Erfahrung zum Rüsten hatten. Keiner der Probanden hatte Erfahrung mit der Microsoft HoloLens 2. Als Referenz diente die aktuelle Vorgehensweise mithilfe einer Aufspannzeichnung (AZ). Die Mitarbeiter orientieren sich dabei am Lochraster der Tischaufspannfläche und am Rohteil. Die Spannelemente werden mehr oder weniger mit Augenmaß positioniert. Um eine möglichst objektive Aussage treffen zu können, musste jeder Proband dieselbe Aufspannsituation montieren, einmal mit Aufspannzeichnung und einmal mit der HoloLens 2, wobei die Hälfte der Gruppe zuerst mit der Aufspannzeichnung begann, die andere Hälfte zuerst mit der HoloLens 2.

Vor Beginn der Versuchsdurchführung wurde die HoloLens 2 auf den jeweiligen Probanden kalibriert und jeder konnte sich mit Hilfe eines kleinen Demonstrator-Rüstbeispiels in die App einarbeiten und an die AR-Brille gewöhnen. Zur Beurteilung der erreichbaren Genauigkeit wurde nach jedem Rüstprozess die Aufspannung mit einem 3D-Scanner digitalisiert. Aus den Punktewolken wurden für jede Messung dieselben Merkmale definiert. Anschließend wurden die so ermittelten Messdaten mit dem CAD-Modell der Aufspannung verglichen und relevante Abweichungen dokumentiert.

15 von 16 Probanden favorisieren die AR-Brille

Über alle Probanden hinweg ist eine deutlich höhere Positionsgenauigkeit bei der Verwendung der HoloLens 2 festzustellen, die im Falle der Spannpratzen sowohl im Mittel als auch bei der Standardabweichung um etwa 75 Prozent besser war als mit der Aufspannzeichnung. Betrachtet man die maximalen Abweichungen im Versuch von 25,12 (AZ) und 3,67Millimeter (HoloLens 2), wird der Unterschied noch deutlicher. Einmal kam es vor, dass mit der Aufspannzeichnung ein Anschlagstift in der falschen Gewindebohrung montiert wurde. Die Auszubildenden hatten am Ende bezüglich der erreichten Genauigkeit der Aufspannung die Nase leicht vorne.

Zudem konnten sie die Aufspannung in derselben Zeit rüsten wie die erfahrenen Mitarbeiter. Im Mittel über alle Probanden lag die Zeiteinsparung bei Verwendung der HoloLens 2 etwas über 10 Prozent trotz der kurzen Einarbeitungszeit in die AR-App (< 10 Minuten). „Wir sind mit diesem ersten Ergebnis bereits sehr zufrieden“, betont Weinzierl. „Die Genauigkeit ist besser als erwartet. Außerdem haben 15 von 16 Probanden nach der Studie klar das Rüsten mit der HoloLens 2 favorisiert. Im Dauereinsatz erwarten wir aufgrund steigender Routine weitere Zeitvorteile.“

Zusammen mit dem Projektpartner, der Opus Entwicklungs und Vertriebs GmbH, wird ein  Demonstrator auf der EMO in Hannover in Halle 9, Stand A16, ausgestellt.
Zusammen mit dem Projektpartner, der Opus Entwicklungs und Vertriebs GmbH, wird ein Demonstrator auf der EMO in Hannover in Halle 9, Stand A16, ausgestellt. (Bild: OTH Regensburg & Krones AG)

Als Folge dieser Voruntersuchung führt die Krones AG diese Technologie zunächst an einem, später an einem weiteren Standort ein. Natürlich können nur Daten und Informationen über die AR-Brille angezeigt werden, die auch digital vorliegen. Die Krones AG hatte dafür bereits im Vorfeld die Voraussetzungen geschaffen: In der NC-Programmierung werden schon länger alle Spannelemente im verwendeten CAM-System zu einer 3D-Spannbaugruppe virtuell zusammengebaut. Aktuell wird die Datengenerierung und Datenbereitstellung automatisiert. Der NC-Programmierer muss dann nur im CAM-System die zu montierenden Einzelteile der Spannbaugruppe im Ansichtsfenster einblenden und den Datenexport starten. Alle für den Rüstprozess relevanten Daten werden daraufhin auftragsbezogen auf einem Server abgelegt und können von der AR-Brille über eine REST-API geladen werden. Der zu rüstende Auftrag kann entweder über einen Auswahldialog aufgerufen werden oder durch Lesen eines Barcodes oder QR-Codes erfolgen.

Bleiben Sie auf dem Laufenden!

Sie wollen jede Woche die aktuellen Branchenreports, Erfahrungsberichte und Produktneuheiten von FERTIGUNG in Ihrem Postfach haben? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter. Jetzt anmelden!

Neben den offensichtlichen Vorteilen bleibt gegenwärtig noch die Frage offen, wie sich die vergleichsweise empfindliche Hardware im Fertigungsumfeld im Dauereinsatz bewährt. „Eine Backup-Brille sollte sinnvollerweise eingeplant werden“, sagt Ellermeier. „Sollte die Technik dennoch ausfallen, so kann stets auf die alte Lösung mit den Aufspannzeichnungen zurückgegriffen werden. Das Risiko eines Fertigungsausfalls aufgrund der Umstellung auf die AR-Technologie ist aus meiner Sicht nicht gegeben. Ich sehe auch noch einen weiteren Aspekt: Aufgrund der niedrigen Einarbeitungszeit und in Anbetracht des wachsenden Fachkräftemangels bietet diese Lösung neue Perspektiven und ermöglicht den flexibleren Einsatz von vorhandenem Personal.

Ausblick

Für den hier betrachteten Anwendungsfall (Aufspannplatten bis zu 800 x 800 Millimeter) ist die HoloLens-2-Anwendung technisch einsatztauglich. Die Entwickler an der OTH Regensburg wollen zukünftig auch größere Tischaufspannflächen mit einer hohen Positioniergenauigkeit abdecken können, wie beispielsweise die von großen Portalfräsmaschinen. Hierzu muss die derzeit verwendete Tracking-Methode, mit der sich die Brille im Raum orientiert, angepasst werden.

Im Rahmen des ZIM-Projekts ‚CNC-Visual‘ wurde noch ein weiterer Einsatzzweck untersucht: Während des Programmlaufs können dem Anwender zusätzliche Informationen in Echtzeit über die AR-Brille eingeblendet werden, beispielsweise ein Hinweis auf einen kurz bevorstehenden Werkzeugwechsel oder einen Programmstopp, um ein Spannelement zu versetzen oder einen Bereich für eine anschließende Messung zu säubern. Diese Ereignisse sind konfigurierbar und mit der Satznummer des NC-Programms gekoppelt. Die Echtzeit-Verbindung von AR-Brille und CNC-Maschine erfolgt über OPC UA.

Ellermeier ist mit seinem Team auch auf der EMO 2023 vor Ort: „Interessenten sind herzlich eingeladen, die App persönlich auszuprobieren. Die nächste Gelegenheit bietet sich auf der EMO in Hannover. Zusammen mit unserem Projektpartner, der Opus Entwicklungs und Vertriebs GmbH, stellen wir dort einen Demonstrator aus. Wir freuen uns zudem über konstruktive Gespräche.“

Das Expertenteam

Daniel Vögele, M.Sc., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Labor Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen (LFW) der OTH Regensburg, Christoph Kellermeier, B.Eng., Mitarbeiter im Bereich Corporate Production, Digital Production and Systems bei der Krones AG, Josef Weinzierl, Leiter der Corporate Production, Digital Production and Systems bei der Krones AG, sowie Prof. Dr.-Ing. Andreas Ellermeier, Professor für Fertigungstechnik, Werkzeugmaschinen und CAM an der OTH Regensburg und Leiter des Labors Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen (LFW).

Sie möchten gerne weiterlesen?