Alles in einer Linie

Es war eine gelungene Premiere. Ende November 2013 fiel der Startschuss für die neue Fertigungslinie, die ab sofort Gehäuse für neue Dampfturbinen, die bei der Stromerzeugung eingesetzt werden, nicht mehr in verschiedenen separaten Fertigungsbereichen bearbeitet, sondern in einem Fertigungsfluss. In dem neuen Werk im Mülheimer Hafen wurden die Fräs-, Dreh- und Karussell-Drehmaschinen in U-Form platziert. Über den Hallenkran wurde nicht nur der Materialfluss zwischen den Maschinen verknüpft, sondern über die Produktionssteuerung auch der Wertschöpfungsprozess.

„In der neuen Produktionshalle, die wir seit Anfang des Jahres nach und nach mit den Maschinen bestückt haben, arbeiten die unterschiedlichen Werkzeugmaschinen nun in einer Linie, so dass bei jedem Bearbeitungsschritt die Wertschöpfung gesteigert wird und die Gehäuse Schritt für Schritt fertig bearbeitet werden, ohne dass sie wie bisher von einer Fertigungszone in eine andere transportiert werden müssen“, erläutert Rüdiger Semmler, Fertigungsleiter für die Dampfturbinen bei der Siemens AG, Energy Sector in Mülheim, den neuen Prozess.

Für die Bearbeitung von großen und schweren Bauteilen mit bis zu über 100 Tonnen sei diese Fertigungsorganisation Neuland, sagt Semmler. „Als wir vor drei Jahren mit der Planung begonnen haben, war die Skepsis groß“, erinnert er sich. Jetzt seien selbst die größten Zweifler von der Richtigkeit des Konzepts überzeugt. Durch diese Neuorganisation der Fertigung spart Siemens Transport- und Liegezeiten. „Zudem können Arbeitsschritte besser aufeinander abgestimmt werden, so können die Durchlaufzeiten und die Kosten maßgeblich reduziert werden“, erläutert Semmler die Vorteile der neuen Fließfertigung.

Umfassende Komplettbearbeitung
Bei der Bearbeitung der Turbinengehäuse handelt es sich um eine Einzelfertigung, jedes Bauteil ist unterschiedlich. „Wir haben daher hier eine modellbasierte Fertigung realisiert“, sagt Semmler. Alle Maschinen besitzen die neueste Siemens-Steuerung, mit der die Werkzeugmaschinen in die Kommunikations-, Engineering- und Produktionsprozesse für die spanabhebende Fertigung eingebunden werden. Das heißt: Aus dem 3D-Datenmodell werden die Informationen für die Arbeitsvorbereitung generiert und automatisiert die Programme für die einzelnen Arbeitsschritte erstellt – vom 3D-Modell bis zur Maschine eine geschlossene Kette mit Siemens NX (CAD/CAM).

„Unterschiedliche Bearbeitungen, wie sie bei jedem einzelnen Bauteil notwendig sind, werden nun automatisiert programmiert, so dass unsere qualifizierten Mitarbeiter an den Maschinen nur in einzelnen Fällen in das Programm eingreifen müssen“, erläutert der Fertigungsleiter die Vorteile der Vernetzung. „Wir arbeiten zudem mit standardisierten Aufspannungen, bei denen die Nullpunktlagen eindeutig sind und die Bearbeitung wesentlich einfacher und schneller gestartet werden kann.“

Im Zuge der Entwicklung des neuen Fertigungsflusses haben die Siemens-Entwickler aber nicht nur den Prozess optimiert, sondern gleichzeitig auch einzelne Bearbeitungsschritte. „Gleich am Anfang des Bearbeitungsprozesses bei der Bearbeitung der Gehäuse auf der großen Portalfräsmaschine konnten wir neun Arbeitsschritte einsparen“, sagt Semmler. Möglich wird das durch eine umfassendere Komplettbearbeitung, wie es bereits bei kleinen und mittelgroßen Teilen üblich ist und nur im Schwermaschinenbau bisher noch nicht realisiert wurde.

Geringe Toleranzen
Das Besondere an dieser Gantry ist, dass der Fräskopf so angeordnet ist, dass die Bauteile in der Ausrichtung bearbeitet werden können, wie sie später auch beim Kunden im Kraftwerk betrieben werden. Dadurch erzielen wir eine noch höhere Genauigkeit bei der Bearbeitung, die selbst bei solch großen Bauteilen im Hunderstelmillimeter-Bereich liegen. Diese geringen Toleranzen sind notwendig, weil in den Dampfkraftwerken bei hohen Temperaturen große Drücke erzeugt werden. „Da es für Temperaturen von über 500º Celsius kein geeignetes Dichtmaterial gibt, müssen die Dichtflächen so genau bearbeitet werden, dass dort später kein Dampf austreten kann“, erläutert Semmler.

Auf einen Blick

Fertigungsschritte bei Siemens
Die Fertigung erfolgt in verschiedenen parallel laufenden, aber auch nacheinander geschalteten Schritten. Es beginnt mit der Produktion der Wellen. Turbinenwellen bestehen aus hochfestem Stahl und werden als vorgefertigte Schmiedeteile angeliefert. Hochpräzise Drehmaschinen bringen sie in die optimale Form. Dabei ist größte Genauigkeit mit Toleranzen im Hundertstelmillimeter-Bereich gefordert. Auch bei der Fertigung der Gehäuse kommt es auf maximale Genauigkeit an. Die eingesetzten Bohr-, Fräs- und Drehmaschinen arbeiten trotz ihrer enormen Größe mit höchster Präzision ebenfalls im Hundertstelmillimeter-Bereich.

Die Komplettbearbeitung durch Zerspanen, Fräsen und Bohren in einer Aufspannung mit anschließender Qualitätssicherung durch automatisierte Messverfahren und Dokumentation wollen die Siemens-Fertiger in Mülheim als nächsten Schritt umsetzten. „Als wir vor drei Jahren eine Maschine für eine neue Fertigungszelle angefragt haben, gab es weltweit keinen Hersteller, der eine Werkzeugmaschine für die Komplettbearbeitung solch großer und schwerer Bauteile, wie wir sie hier herstellen, hätte anbieten können“, berichtet Semmler.

„Ideal wäre für uns eine Maschine, die Bauteile von bis zu 100 t bearbeiten könnte. Wir wären aber auch mit bis zu 60 t zufrieden, dann wäre das Bauteilspektrum so groß, das wir eine solche Maschine auslasten könnten“, so der Siemens-Fertigungsleiter. Der Energiekonzern hat inzwischen Firmen gefunden, die eine solche Maschine gemeinsam mit Siemens in der Entwicklung haben.

Integration der Messtechnik
Aber nicht nur die Komplettbearbeitung ist eine Herausforderung, sondern auch die Integration der Messtechnik in den Prozess. Um Toleranzen aufzunehmen und Qualitätssicherung zu betreiben wird im Großmaschinenbau noch immer sehr viel manuell gemessen. „Wir wollen das ebenfalls automatisieren und sind mit einer Vielzahl von Messmittelherstellern im Gespräch“, erklärt Semmler.

Heute müssen immer noch Mitarbeiter ins Gehäuse hineinsteigen, um die Toleranzmessungen durchzuführen. „Das soll die Maschine künftig im Prozess selbst machen und sich selbst optimieren“, wünscht sich Semmler. Ein sicherer Bearbeitungsprozess solle künftig, wie bereits in der Automobilindustrie realisiert, die Qualität der Bauteile garantieren.

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