fertigung-Redakteur Jürgen Gutmayr hat die aktuellen Entwicklungen recherchiert:
Die spanende Bearbeitung vieler neuer Werkstoffe ist äußerst anspruchsvoll und stellt bisherige Prozesse auf den Prüfstand. Titan & Co. verlangen nach neuen Bearbeitungsmethoden, da bei ihrer Zerspanung hohe Temperaturen entstehen können. Die Folge sind extremer Werkzeugverschleiß und reduzierte Schnittparameter. Herkömmliche Kühlschmierstrategien wie Vollstrahlkühlung oder Minimalmengenschmierung stoßen meist an ihre Grenzen oder sind gar ungeeignet.
Seit einigen Jahren sorgt die kryogene Kühlung bei schwer zerspanbaren Werkstoffen für Furore. Um jedoch eine kryogene Prozessführung mit flüssigem Stickstoff mit Temperaturen bis - 196 °C bei der Zerspanung zu verwenden, bedarf es spezieller Zuführsysteme wie Isolierkannen zur Speicherung, vakuumisolierte Schläuche und entsprechend ausgelegte Zuführtechnik innerhalb der Werkzeugmaschine und des Werkzeugsystems. Ein weniger aufwändiges kryogenes Verfahren ist die Schneestrahlkühlung mittels flüssigem CO2 mit einer Kühlmitteltemperatur von –78 °C.
Deutliche Vorteile
Vorteile bieten diese Kühlverfahren insbesondere bei der Bearbeitung von Titan- und Nickellegierungen oder Duplexstählen, Werkstoffen, bei denen die hohe thermische Belastung der Schneide zu schnellem und hohem Schneidenverschleiß führt. Eine kryogene Kühlung ermöglicht bei diesen Werkstoffen eine erhebliche Erhöhung der Schnittparameter und auch der Standzeiten.
Mit einem in Deutschland erstmals auf der Messe AMB 2010 in Stuttgart vorgestellten System zur Spindel-/Werkzeuginnenkühlung mit flüssigem Stickstoff ließ der Werkzeugmaschinenhersteller MAG die Fachwelt aufhorchen. Die Neuentwicklung kühlt die Schneide effektiver als alle bisherigen Methoden. Das Flüssigstickstoffkühlsystem wird je nach Bearbeitungsanforderung mit einer Minimalmengenschmierung kombiniert. Der Vorteil: weniger Werkzeugreibung und Adhäsion. Auch namhafte Werkzeughersteller wie etwa die Hartmetall-Werkzeugfabrik Paul Horn GmbH haben sich dem Thema seit einigen Jahren verschrieben und bieten mittlerweile adäquate Lösungen wie Wendeschneidplatten und Halter an.
Meine Meinung
Durch den Einsatz neuer und immer schwerer zu zerspanender Werkstoffe müssen neue Bearbeitungsstrategien entwickelt werden. Die kryogene Kühlung ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Die Walter AG hat bewiesen, dass mit diesem Konzept nicht nur längere Standzeiten erreicht werden können, sondern sich auch die Herstellkosten um 30 Prozent reduzieren lassen. Jürgen Gutmayr, Redaktion fertigung
Ein inzwischen großserientaugliches kryogenes Kühlkonzept auf CO2-Basis bietet der Werkzeughersteller Walter AG an. An einem Beispiel aus der Praxis wird die Komplexität dieser Methode deutlich. So ist die Bearbeitung von Turbinenschaufeln keine ganz leichte Zerspanungsaufgabe. In früheren Zeiten war meist die Maschine der limitierende Faktor, in der heutigen Fertigung sind es die Werkstoffe.
Anspruchsvolle Werkstoffe
Bei der Konstruktion neuer Anlagen für die Energieerzeugung setzt man derzeit auf erhöhte Eingangstemperaturen, um den Wirkungsgrad von Turbinen zu steigern. Folglich müssen auch die verwendeten Werkstoffe hohe Temperaturen aushalten. Herkömmliche ferritische, martensitische oder austenitische Turbinenstähle stoßen hier an ihre Grenzen. Als Alternative kommen hochwarmfeste Superlegierungen auf Nickelbasis zum Einsatz. Härtere Werkstoffe heißt auf Seiten der Zerspanung aber auch: längere Maschinenlaufzeiten und höhere Herstellungskosten. Wer Kosten senken will, kommt nicht darum herum, über neue, gezielt aufeinander abgestimmte Werkzeug- und Bearbeitungskonzepte nachzudenken und dabei die speziellen Anforderungen der Energiebranche im Blick zu haben.
„Die Energietechnik zählt seit Jahrzehnten zu unseren wichtigsten Fokusbranchen“, betont Andreas Elenz, der den Bereich Business & Application Development bei Walter leitet, „wir sind Komplettlieferant für alle Schlüsselbauteile, damit auch für die Schaufeln.“ Gemeinsam mit dem Institut für Produktionstechnik (IfP) der Westsächsischen Hochschule Zwickau nahm die Walter AG deshalb Anfang 2013 eine Grundlagenforschung über kryogene Bearbeitung mit flüssigem CO2 in Angriff.
Bei schwer zerspanbaren Materialien erfolgt die Hitzeabfuhr nicht wie bei Stahl üblich über die Späne. Die Wärmeenergie dringt in die Schneide ein und weicht die Verbindung aus Kobalt und Wolframkarbid auf. Mit steigender Hitze sinkt die Performance der eingesetzten Werkzeuge. Einfach betrachtet ergeben sich zwei Lösungsansätze für dieses Problem: die Hitzeresistenz des Schneidstoffs erhöhen oder das belastete Werkzeug herunterkühlen.
Auf einen Blick: Vorteile der kryogenen Kühlung
- längere Standzeiten der Werkzeuge
- gesteigerte Produktivität durch höhere Schnittparameter
- bessere Qualität der Oberfläche
- keine Entsorgung von Kühlschmierstoffen
- keine Bauteilreinigung notwendig
- Späne zu 100 Prozent recyclingfähig
Während des genannten Forschungsprojekts in Zwickau wurden die Schneidkanten der eingesetzten Fräser mit –78,5 °C gekühlt. Bei den Versuchen verwendeten die Entwickler eine externe Kühlmittelzufuhr und verglichen unterschiedliche Kühlstrategien miteinander: MMS, Emulsion, CO2, Kombinationen. Die Ergebnisse sprachen eine eindeutige Sprache: Kühlung mit CO2 hat großes Potenzial mit geschätzten Einsparungsmöglichkeiten bei der Produktion von Turbinenschaufeln von bis zu 40 Prozent.
Im zweiten Schritt machte sich Walter daran – als erster Werkzeugspezialist weltweit – das Prinzip kryogene Kühlung in eine industriereife Lösung zu überführen. Der Schweizer Maschinenbauer Starrag AG wurde als Partner hinzugezogen. Schon wenige Monate später konnte die neue Technik unter dem Namen „Cryotec“ erstmals erfolgreich präsentiert werden.
Fräser auf Eis
Für den Zerspanungsvorgang setzte man eine speziell für die Schaufelbearbeitung optimierte Variante des Rundplattenkopierfräsers F2334R ein. Der Fräsertyp zeichnet sich durch hohe Stabilität und entsprechende Prozesssicherheit aus.
Außerdem eignet sich das Werkzeug für die 5-Achsen-Bearbeitung, die es ermöglicht, in allen Lagen die Geometrie- und Schnittkraftverhältnisse optimal einzustellen.
So wird bereits beim Schruppen eine gute Annäherung an die Endkontur erreicht. „Ein wichtiger Entwicklungsschritt bei Cryotec ist die Zuführung des Kühlmittels mit einem Zweikanalsystem durch das Werkzeug statt von extern“, erläutert Thomas Schaarschmidt, Segment Manager Energy und Technologieverantwortlicher für die Turbinenschaufelbearbeitung bei der Walter AG. Durch die zwei Kanäle können parallel zwei Kühlmittelsorten fließen: ein Kanal für CO2 und ein zweiter für MMS, Druckluft oder Emulsion.
Das zur Kühlung eingesetzte CO2 hat zunächst Raumtemperatur und befindet sich bei 60 bar Druck im flüssigen Zustand. So wird es durch das Werkzeug geleitet und tritt dann in unmittelbarer Nähe der Schneidkante wieder aus. An dieser Stelle expandiert das CO2 zu Trockeneis und bringt die gewünschte Kühlwirkung genau dort, wo sie benötigt wird. Über den zweiten Kanal lässt sich darüber hinaus die etwa bei der Titanbearbeitung benötigte Schmierung mit MMS zuführen.
Technologischer Vorsprung
Der technologische Vorsprung der Cryotec-Kühlung zeigt sich besonders beim CO2-Druck: Dieser muss maschinen- und werkzeugseitig so lange wie möglich aufrechterhalten werden. Denn sollte er abfallen, tritt Vereisung ein und die CO2-Zuführung verstopft. Dabei sollte der Durchsatz an CO2 nicht höher sein als unbedingt notwendig, um die angestrebte Kühlwirkung zu erreichen.
Im Vergleich zu Emulsion ist CO2 als Kühlmittel eine recht teure Alternative. „Hier haben wir viel Entwicklungsarbeit in die Ermittlung des richtigen Düsendurchmessers und -austritts gesteckt“, erläutert Schaarschmidt.
In Versuchen konnten die Walter-Entwickler eine deutliche Performance-Steigerung zeigen: Bei der Bearbeitung von Turbinenleitschaufeln aus martensitischem, rostfreiem Stahl wurde die Temperatur an der Schneidkante mittels CO2-Kühlung um 100 °C reduziert. Gegenüber der Trockenbearbeitung konnte die Werkzeugstandzeit bei gleichbleibenden Schnittparametern um 30 Prozent erhöht werden. Gleichzeitig ergaben sich um 15 Prozent niedrigere Herstellungskosten. Auch bei austenitischem, rostfreiem Stahl zeigte sich eine signifikante Steigerung der Standzeit im Vergleich zu MMS. Hier reduzierten sich die Herstellungskosten sogar um 30 Prozent.
Kurz zusammengefasst bietet das kryogene Kühlkonzept folgende Vorteile: Die Standzeiten verlängern sich, weil der Werkzeugverschleiß geringer ausfällt. Die Produktivität erhöht sich, weil mit höheren Schnittparametern gefahren werden kann. Die Qualität der Bauteile nimmt durch bessere Oberflächenqualität und geringere Randzonenbeeinflussung zu. Und letztendlich entfallen noch Aufbereitung, Wartung und Entsorgung von Kühlschmierstoffen sowie die Bauteilreinigung.
Zum Schluss noch ein kurzer Blick in die Zukunft. Für Thomas Schaarschmidt sind zwei Schwerpunkte in der Entwicklungsarbeit bei Walter bereits gesetzt: "Wir setzen künftig unseren Fokus verstärkt auf die Standardisierung von Werkzeugkonzepten und für kryogene Kühlung spezialisierte Schneidstoffe. Diese müssen der auftretenden Temperaturwechselwirkung, also das Aufheizen des Werkzeugs beim Eindringen ins Werkstück und der Abkühlung beim Austreten, die durch CO2 verstärkt wird, besser standhalten. Denn wir gehen davon aus, dass allein bei einer Turbine bis zum Jahr 2020 der Anteil an schwer zerspanbaren Werkstoffen auf 40 Prozent steigen wird."